Stress ist allgegenwärtig in unserer Hochleistungsgesellschaft, die nur die Ziele „schneller, besser, höher, mehr“ kennt. Viele leiden unter den zahlreichen Anforderungen, die täglich in einem 24-Tag bewältigt werden müssen, v. a. wenn ausgleichende Elemente wie Entspannung, Auszeiten und guter Schlaf fehlen. Stress führt bei vielen Menschen zu Stress-Essen: Fressattacken, Frustessen oder ständigem Verzehr von Snacks und damit langfristig zu Übergewicht. Wir stellen Ihnen in folgendem Artikel die zahlreichen komplexen Wechselwirkungen zwischen Stress und Ernährung vor und zeigen, wie Achtsamkeit Betroffenen beim Ausweg aus dem Teufelskreis hilft.
Permanente Hochspannung hat Folgen für die Gesundheit
Stress macht krank. Er zählt zusammen mit falscher Ernährung, Rauchen, Bewegungsmangel und hohem Alkoholkonsum zu den Hauptursachen vieler Erkrankungen, z. B. des Herz-Kreislauf-Systems. Mittlerweile ist bekannt, dass chronischer Stress langfristig zu dauerhaften Entzündungsprozessen im ganzen Körper führt.
Trotzdem leiden viele Menschen unter chronischem Stress: Sehr oft sind die Ursachen mit dem Arbeitsleben verknüpft, z. B. hohe Arbeitsbelastung (lange Arbeitstage, ständige Verfügbarkeit) oder unsichere, befristete Stellen.
Weitere häufige Stressoren sind permanente Reizüberflutung und ständige Konflikte im Privatleben. Laut einer Studie der Techniker Krankenkasse 2 finden 8 von 10 Deutschen ihr Leben stressbelastet, jeder Dritte leide sogar unter Dauerstress.
Stress versetzt den Körper in eine „Alarmsituation“, die dem Lebewesen eine schnelle Anpassung auf eine Gefahrensituation ermöglichen soll, ursprünglich v. a. fight or flight: Mobilisierung aller möglichen Kräfte für Flucht oder Kampf. Menschen in stressigen Perioden oder unter Dauerstress kompensieren diesen auf unterschiedliche Weise: häufigerer Griff zur Zigarette, Kaffeetasse, Weinglas oder Veränderungen in der Ernährung. Ungesunde, hochkalorische Ernährung ist häufig mit Stressphasen assoziiert.
Dabei wäre eine gesunde, ausgewogene Kost einer der Ansatzpunkte, die Stress-Resilienz zu verbessern, sprich „die Nerven zu stählen“.
Die Stressreaktion im Körper: Kurzfristig überlebenswichtig – langfristig schädlich
Die direkte körperliche Reaktion ist vielfältig und darauf ausgerichtet, schnell Energie und Wachsamkeit bereitzustellen. Positiv (Eustress) und negativ (Dysstress) empfundener Stress löst die gleiche Kaskade im Körper aus. Die Stressreaktion ist wichtig für den Körper. Probleme entstehen erst, wenn die Anspannung nicht zeitnah wieder abgebaut werden kann, also keine Pausen eingelegt werden. Das passiert im Körper bei Stress:
- Ausschüttung der Stresshormone Adrenalin, Noradrenalin und Kortisol
- Herzschlag, Blutdruck, Magensäurekonzentration und Blutzuckerspiegel erhöhen sich, Muskeln spannen sich an, Pupillen weiten sich, Atem beschleunigt sich, Darmtätigkeit wird gehemmt
- Ziel: Muskeln und Gehirn kurzfristig vermehrt mit Sauerstoff und Energie zu versorgen
Hält dieser über längere Zeit an, entwickeln sich Beschwerden wie Verspannungen und Kopfschmerzen, Magen- und Verdauungsstörungen, Schlafstörungen und Essstörungen, später können gravierende Erkrankungen wie Allergien, Stoffwechsel-/Entzündungs-/Autoimmun- und Herz-Kreislauferkrankungen sowie Depressionen entstehen.
Emotionen und Nahrungsaufnahme im komplexen Zusammenspiel
Emotionen wie Stress und Essen sind auf verschiedenen Ebenen miteinander verknüpft, die möglichst alle berücksichtigt werden müssen für eine erfolgreiche Therapie. Bei der Wirkung von Nahrung auf Emotionen spielen folgende Mechanismen eine Rolle 2:
- assoziative (Nahrung und bestimmte Vorstellungen/Erinnerungen)
- sensorische (süß macht zufrieden, reduziert kurzfristig Stress)
- pharmakologische (psychotrope Inhaltsstoffe wirken direkt auf das Gehirn)
- neurochemische (Einfluss von Nahrung auf Neurotransmittersysteme)
- energetische (Einfluss der Energiedichte auf emotionales Befinden)
Viele Theorien sind noch nicht im Detail geklärt, liefern jedoch erste Ansätze. Im Folgenden stellen wir wichtige Zusammenhänge zwischen Stress, negativen Emotionen und Ernährung vor. Hier lesen Sie weiter zu Stress-Essen und Stress-Hungern und welchen besonderen Vitalstoffbedarf unser Körper bei Stress hat.
Emotionales Essen hat Suchtstruktur: Gefühle haben immer noch mehr Hunger
40 % der Menschen essen unter Stress mehr . Eine Studie 3 untersuchte, warum Personen in der Collegezeit in den USA im Durchschnitt 5 kg zunahmen und jeder dritte Student als fettleibig eingestuft wird. Vor allem weibliche Probanden gaben Stress als primäre Ursache für emotionales Essen an, männliche dagegen Langeweile oder Angstgefühle. Vorwiegend Frauen gaben nach den Essattacken Schuldgefühle an, wodurch sich erneut Stress bildete. Die häufigsten Gefühle, die nach der Ersatzbefriedigung Essen verlangen, sind Einsamkeit, Wut, Traurigkeit, unerfüllte Sehnsüchte und Hoffnungen oder Langeweile. Die Signale des Körpers „hungrig“ und „satt“ werden langfristig nicht mehr wahrgenommen.
Oft wird der Grundstein für dieses Verhalten schon früh 4 in der Biografie gelegt. Studien 5, 6 fanden heraus, dass schon Kinder versuchen, ihre negativen Gefühle (wie mangelnde Zuwendung, Einsamkeit) mit Essen zu betäuben. Auch erlernte Muster, wie die Kopplung zwischen Süßigkeiten und z. B. einer Verletzung oder Erfolgserlebnissen, werden oft von Bezugspersonen, wie z. B. den Großeltern, eingeführt.
Paradoxerweise erzeugt Junkfood bei häufigem Konsum genau diese negativen Emotionen, die Betroffene wiederum mit Essen betäuben möchten: Kinder zeigten in Studien bei häufigem Verzehr von süßen Snacks, Fertiggerichten, Fastfood etc. häufiger Wut, Trauer und Alpträume.
Experten sehen in der Kopplung von Emotionen und Essen ein größeres Problem als bei der Entwöhnung von z. B. Alkohol oder Zigaretten. Genussmittel können mithilfe von Therapien komplett aus dem Leben eliminiert werden, während Essen Teil der täglichen Routine ist und so jeden Tag eine neue Konfrontation stattfindet. Das Aufbrechen der Muster und Verknüpfungen von negativen Emotionen mit Essen ist also meist ein langwieriger Prozess.
Selfish-Brain-Theorie: Gehirn dominiert in der Energieversorgung
Die kurzfristige Reaktion des Körpers für erhöhte Energiemobilisierung ist einer der Gründe, warum Menschen unter Stress vermehrt zu hochkalorischen Nahrungsmitteln greifen oder überhaupt an Essen denken. Die Theorie des selfish brain liefert dafür folgende Erklärung:
Nach dem Lübecker Professor und Wissenschaftler Achim Peters erklärt sich der Griff zu extrem fettigen und/oder süßen Nahrungsmitteln so: Das Gehirn hat oberste Priorität im Körper und beansprucht in stressigen Situationen mehr als 90 % der Glucose. In der Evolution des Menschen ergab dieser Mechanismus Sinn, um in Gefahrensituationen maximale Aufmerksamkeit und schnelle Entscheidungen bzw. Reaktionen zu ermöglichen.
Wenn der Stress jedoch zum Dauerzustand wird, passiert Folgendes: Das Gehirn unterdrückt die Produktion von Insulin, welches für die Aufnahme von Glucose in Muskeln und Fettgewebe zuständig ist, und beansprucht selbst den Großteil der Glucose: Die Botschaft als Resultat lautet: Essen! Die in Folge aufgenommene Energie wird jedoch meistens nicht verbraucht, da 48 % der Beschäftigten in Deutschland am Bildschirm in sitzender Tätigkeit arbeiten.
Auch das EU-Projekt NeuroFast aus dem Jahr 2015 untersuchte die Zusammenhänge zwischen Stress, Sucht und Essverhalten und kam zum Ergebnis, dass eben diese sehr fettigen, süßen oder salzigen Nahrungsmittel die Grundlage dafür sein können, eine Esssucht zu entwickeln.
Warum kein Griff zur Karotte? Der Reiz von Zucker und Fett
Warum beim emotionalen Essen v. a. Ungesundes verzehrt wird, hat mehrere Gründe. Psychoaktive Botenstoffe, die durch Darmbakterien aus Bestandteilen von Nahrungsmitteln produziert werden, haben direkten Einfluss auf die Laune. Wissenschaftler schreiben Süßigkeiten (Glucose) und dem damit stimulierten Dopamin-Belohnungssystem teils eine höhere psychotrope Wirkung und Suchtentwicklung zu als harten Drogen wie Kokain oder Heroin 7.
Hunger-Anzeiger Neuropeptid NPY bei Stress erhöht
Eine neue Studie aus Australien 8 zeigte anhand von Tierversuchen, dass unter Stress die Ausschüttung des Hunger-Moleküls NPY (Neuropeptid Y = Gegenspieler Leptins) verstärkt ist. Im Normalzustand wird NPY nur vom Hypothalamus produziert, in ständig wiederkehrenden Stresssituationen jedoch auch von der Amygdala (Mandelkern) im Gehirn. Die Produktion von NPY wird von hochkalorischen Lebensmitteln noch zusätzlich befeuert. Die verantwortlichen Wissenschaftler übertragen die Ergebnisse der Experimente auch auf den Menschen: Gerade in Stress-Perioden ist es besonders wichtig auf die Ernährung zu achten, um Übergewicht und noch mehr Stress durch kontraindizierte Lebensmittel zu vermeiden.
Der Griff zu ungesunden Lebensmitteln in stressigen Hochphasen wirkt sich doppelt negativ aus: Neben Übergewicht erhöhen Chips, Süßigkeiten und Softdrinks die Entzündungsbereitschaft im Körper – im Gegensatz zu einer ausgewogenen vitalstoffreichen Kost mit viel Gemüse, Obst, Vollwertprodukten und Fisch.
Immer mehr Studien belegen, dass die western style diet für Depressionen mitverantwortlich ist (Lesen Sie hier weiter zu Ernährung und deren Einfluss auf die Psyche). Burnout und Depression sind häufig die Folgen von chronischem Stress. Besonders im Fokus stehen derzeit die Darm-Hirn-Achse und der Einfluss von Essen auf unsere Stimmungen und Entscheidungen.
Das Darm-Mikrobiom gilt als der entscheidende Mediator zwischen Nahrung und Gehirn.
Die bakterielle Zusammensetzung des Darm-Mikrobioms wird beeinflusst durch die Auswahl unserer Kost, Erkrankungen, Medikamente wie Antibiotika und Antihistaminika und Genussmittelkonsum.
Eine ausgewogene Kost mit viel Omega-3-Fettsäuren und Antioxidantien ist die Basis für ein stressresistenteres Gemüt. Forscher fanden anhand von Tierexperimenten heraus, dass durch den häufigen Konsum von Junkfood initiierte Entzündungsprozesse Mikrogliazellen (Immunzellen im Gehirn) beschädigt werden 9. Durch bestimmte sekundäre Pflanzenstoffe können diese wieder repariert werden. Dazu gehören z. B. Polyphenole (z. B. Flavonoide, Anthocyane), die vor allem in roten Früchten wie Beeren vorkommen.
Die Sprache des eigenen Körpers wieder neu erlernen: Achtsamkeit
Das Wissen rund um Ernährung und ihre Auswirkungen nimmt zu, doch die Zahl der Betroffenen mit Adipositas, Diabetes und deren Folgeerkrankungen steigt ebenfalls, statt zu fallen. Auch die häufig wechselnden Empfehlungen und einseitigen Studienergebnisse verwirren viele Menschen mehr, als dass sie zur Aufklärung beitragen. Der Großteil der Menschen in Deutschland ist mit seinen Ernährungsgewohnheiten unzufrieden und sucht Hilfe in Ratgebern, bei Therapeuten und Apps. Die Intuition geht dabei zunehmend verloren, im Fokus steht Kalorienzählen, hier Low Carb, da Fett reduzieren oder abends nur Proteine. Der Druck ist hoch fit, schön und gesund zu sein – dieser Stress lässt oft dann paradoxerweise wieder zum „Verbotenen“ greifen.
Die achtsamkeitsbasierte Stressreduktion Mindful-Based-Stress-Reduction (MBSR)
MBSR beschäftigt sich u. a. mit der oben genannten Achtsamkeit beim Essen. Das in den 1970er Jahren vom Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn entwickelte Programm hat sich in Teilen in verschiedenen psychotherapeutischen Methoden durchgesetzt. Ruhe und Langsamkeit beim Essen stellen die Basis und die Fragen nach dem: Wann bin ich wirklich satt? Wie schmeckt mein Essen heute genau? Wie fühle ich mich beim Essen? Wie duftet mein Essen? Wenn wir aus wirklichem Hunger heraus essen, findet keine Aktivierung des Belohnungssystem statt 10.
Das Gegenteil passiert, wenn Essen als Ersatz für die Erfüllung vieler Bedürfnisse wie Nähe, Ruhe, Bewegung, Entspannung dienen soll.
Teufelskreis aufbrechen: Bewegung und guter Schlaf sind essentiell
Auf Stress folgt Schokolade, auf Frust eine Packung Chips, auf Langeweile eine Tüte Gummibärchen. Die eigentliche Fähigkeit unseres Körpers die richtigen Signale zu geben, wann er welche Nahrungsmittel braucht, ist verloren gegangen. Sie kann jedoch durch einige Maßnahmen wieder trainiert werden.
- Langsame und bewusste Mahlzeiten ohne Ablenkungen wie Smartphone, Laptop oder Zeitung sind dabei essentiell.
- Sport steigert die Konzentrationen von Dopamin, Serotonin und Noradrenalin im Blut. Die Aktivierung des Belohnungssystems verbessert die Stimmung und vermindert Stressgefühle. Regelmäßige sportliche Aktivität baut Muskeln auf und sorgt langfristig für eine stetige Gewichtsabnahme und das Halten des Normalgewichts.
- Zeit für Entspannung und Pausen sollte im Alltag ausreichend vorhanden sein. Stress und überwiegend negative Emotionen sind häufig die Grundlage für Ess-Sucht und Adipositas.
- Die Reaktion, bei Stress nach Junkfood zu greifen, sollten unterdrückt und bewusst durch eine andere Aktivität ersetzt werden, wie z. B. Musik hören, an der frischen Luft durchatmen oder wenn möglich 20 Minuten Bewegung.